Es begab sich im Jahr 2004, als ich zu dem Schluss kam, mein Martin und mein Nachbar wollen mich verkaspern. Da erzählten sie mir, ein Reh käme jeden Nachmittag in unseren Garten, lege sich in die windgeschützte Ecke bei unserem Eingang, schaue dumm im Kreis herum und ginge immer, bevor ich nach Hause käme. Männer!
Eines schönen Tages war es dann soweit. Ich lümmelte mit den Katzen gemütlich auf dem Sofa rum, als ich an der Terrassentür ein Geräusch hörte. Einige Katzen waren auch alarmiert und nahmen die Angelegenheit unter die Lupe. Ich schaute auf und dachte "Känguru?" , denn nur ein Stück Kopf und riesige Ohren waren zu sehen. Ich war irritiert! So ruhig wie möglich begab ich mich zur Terrasse. Nicht, dass ich neugierig wäre, also wirklich nicht! :-)

Da stand Bambi. Sie hatte mich nun auch gesehen und war ebenso neugierig wie ich. Drückte ihre süße Schnauze an die Scheibe und wackelte mit den langen Ohren. Nanü! Was das? Wir schauten uns an. Ich lebe zwar auf dem Lande, aber normal war das nicht. Rehe sind doch wilde Tiere. Auch in unserer Gegend klopfen sie eigentlich nicht an.

Mich wundernd holte ich meine Kamera und schlich ins Freie. Ist sie schon weg? Ich will sie doch nicht mit menschlichem Geruch besudeln, dem Tier keine Angst machen, es nicht verschrecken. Beißen Rehe? Diese Frage hatte sich mir noch nicht so häufig gestellt.

Bambi war von meinen Überlegungen nur wenig beeindruckt. Sie spazierte am Haus entlang, zupfte mal hier, mal da an den Pflanzen und schien sich sehr wohl zu fühlen. Ein Foto hatte ich immer noch nicht. Dann ging sie hinters Haus zu den Katzen (Gehege). Man schien sich zu kennen... Ich schlich bis an den Nachbarzaun, um aus größtmöglicher Entfernung zu beobachten, und vielleicht doch noch ein Foto zu bekommen. Das sah Bambi. Und kam näher! Wie war das mit dem Beißen? Ich hatte die Kamera vorm Bauch und nahm Maß, aber so schnell war ich nicht. Bambi kam näher, war sehr interessiert, nahm den Kopf runter und streckte ihn ganz weit vor. Sie schnupperte. Ich nahm die Kamera hoch, stand nun mit dem Rücken an meinem Auto, kein Entkommen möglich. Was wird sie tun?

Sie kam ganz nah zu mir, schnupperte erst vorsichtig, dann energischer meinen Bauch ab, schnaubte vor sich hin, sah mir tief in die Augen. Dann drehte sie enttäuscht ausschnaufend ab, machte ein Paar Sprünge bis auf den Rasen, lief federleicht am Haus und die Einfahrt entlang. Am Grundstückseingang stand sie und wartete, bis ich an der Einfahrtecke angekommen war und sie wieder sehen konnte. Sie schaute, drehte sich um und verschwand im Wald. Wow!

Bambi kam nun regelmäßig zu uns. Manchmal fuhr ich mit dem Wagen aufs Grundstück und sie lief vor mir her bis hinters Haus. Zu uns kommt ein Reh. Was sagt man dazu? Warum dies so war? Also, reden konnte sie ja schließlich nicht!

Irgendwann arbeitete ich mit einer Kollegin aus einem der Nachbardörfer. "Bei Euch ist ein Reh? Bei uns hängen Zettel aus, da wird ein Reh gesucht." So erfuhren wir nach einigen Telefonaten Bambis Geschichte:
Im Nachbardorf gibt es eine Aufzuchtstation für Rehe. Ein Paar, das in der Gegend Urlaub machte, hatte das Reh gefunden und aufgezogen und bei sich behalten. Das Paar hatte Schäferhunde. Mit denen verstand sich das Reh sehr gut. Als das Paar wieder nach Hause fuhr, gaben sie das Reh in der Nuckelstation ab. Die Leute dort stellten fest, dass Bambi längst entwöhnt war und sich selbst versorgen konnte. So wurde sie ausgewildert. Nach einiger Zeit kam das Paar wieder, stellte fest, dass Bambi nicht mehr in der Nuckelstation war und hängte Zettel im Wald aus. Das Reh müsse in die Nuckelstation und man solle die Leute von der Station anrufen, wenn man es findet.
Den Zettel hatte meine Kollegin gesehen. So wurde auf kompliziertem Weg Kontakt aufgenommen.
Mein Martin und unser Nachbar lockten Bambi aufs Nachbargrundstück, denn wir hatten kein Tor zum Verschließen unseres Grundstücks. Die Männer nahmen an, Bambi müsse gefüttert werden. So mixte Martin den ganzen Vorrat unserer Kittenmilch an, um sie mit selbstgemachtem Sauger auf Flasche Bambi anzubieten. Bambi wollte die Milch nicht und ich durfte noch am Abend Nachschub besorgen. Bambi war völlig frei von Angst, schaute sich des Nachbars Grundstück an und bestieg den nett blühenden Komposthaufen. Fraß ihn leer, legte sich nieder und schlief den Schlaf der Gerechten.
Nach einigen Stunden hatten wir endlich Kontakt zu den Leuten von der Nuckelstation, die uns sagten, das Reh sollen wir mal lieber wieder gehen lassen. Es musste nicht gepäppelt werden. Also wurde das Tor wieder aufgemacht, Bambi schlief derweil weiter auf dem Kompost, alles war gut.

Bambi kam den ganzen Sommer über, im Herbst, im Winter, im Frühjahr und auch den darauffolgenden Sommer. Ganz selbstbewusst trabte sie bei uns aufs Grundstück, freute sich, wenn wir draußen waren, machte Fangspiele und erschreckte mich, als ich dösend auf der Terrasse lag. Sie entdeckte auch, wie sie an die lange Seite unseres Katzengeheges kommen konnte. Da legte sie sich gerne an den Zaun und genoss die Gesellschaft der Katzen. Leider fraß sie meine Blumen. Im Herbst störte mich das ja nicht, verfroren wären sie ja eh bald (Begonien sind besonders lecker), aber als sie im Folgejahr alle Rosenknospen fraß, war ich weniger begeistert. Ein Tray Hornveilchen konnte ich nicht einmal einpflanzen, sie hatte sie vorher entdeckt und alle abgefressen. Daher schaffte ich kurzentschlossen ein Tor für unser Grundstück an. So konnten wir selbst bestimmen, wann Bambi zu Besuch kommen konnte und wann nicht. Zu ihren geliebten Katzen konnte sie ja weiterhin ungehindert von der Waldseite aus. Unser Grundstück grenzt an ein Waldgrundstück.

Bei Spatziergängen durch die bewaldete Umgebung begegnete sie uns immer wieder. Viele Bewohner kannten Bambi. Eine Frau, die eine Pferdewiese mitten im Wald hat, erzählte uns, Bambi hat auf der Wiese mit ihrem Schäferhund Fangen gespielt. Erst hat der Hund das Reh gejagt, dann blieb sie stehen, drehte sich um und jagte den Hund.

Seit einigen Monaten haben wir Bambi nicht mehr gesehen.
Irgendwie hatten wir die sonderbare Idee, sie könnte eines Tages mit ihrem Nachwuchs kommen. Wir hoffen, Bambi hat sich doch noch den anderen Rehen, von denen es hier viele gibt, angeschlossen. Wahrscheinlich ist das aber nicht.

Ab und zu denken wir zurück an die Sommer mit Bambi.
Wir haben sie übrigens nie angefasst.
(c) 2006 by Maddin